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Mittwoch, 1. Februar 2017

Über den Tod eines brasilianischen Richters

Brasiliens Nebenparlament
Die Tragödie zeigt den wachsenden politischen Einfluss des Verfassungsgerichts. Für www.Economist.com, 28. Januar 2017


Am 19. Januar verlor Brasilien einen entscheidenden Mann in einem entscheidenden Moment. Teori Zavascki, ein Richter am Obersten Bundesgericht (STF) starb zusammen mit vier weiteren Personen beim Absturz eines kleinen Flugzeuges vor Brasiliens südöstlicher Küste. Er hinterlässt eine konsternierte Familie, Legionen an Bewunderern - und das explosivste Paket an Fällen der höchsten gerichtlichen Instanz des Landes.

Zavascki wurde zu einem allseits bekannten Namen - und das trotz all der Konsonanten, die er von seinen polnischen Vorfahren erbte - weil er die Ermittlungen zum Korruptionsskandal leitete, der sich um den staatlichen Ölkonzern Petrobras abspielte. Im allgemeinen Sprachgebrauch bekannt als Lava Jato (Autowäsche) dominieren die Ermittlungen seit 2014 die Politik des Landes. Sie führten im letzten August zur indirekten Anklage der Präsidentin Dilma Rousseff; sie selbst wurde nicht belastet, aber ihre Arbeiterpartei (PT) wurde es. Vor seinem Tod war Herr Zavascki gerade dabei, ein Kronzeugengesuch stattzugeben für mehrere Geschäftsleute, was zu weiteren Ermittlungen gegen Politiker führen könnte.

Michel Temer, der auf Frau Rousseff folgte, muss nun einen Ersatz in das Amt berufen. Es wurde nicht erwartet, dass er Brasiliens höchstes Gericht mitformen könnte. Keiner der 11 Richter hätte das Pensionsalter von 75 vor dem Ende seiner Amtszeit im Jahr 2018 erreicht. Herr Temer aber muss nun eine Entscheidung treffen, die nicht nur Lava Jato beeinflussen wird, sondern auch den Charakter einer Institution, die eine immer bedeutendere - und politischere - Rolle in Brasiliens öffentlichen Angelegenheiten spielt.

Das STF ist ein Hybrid und ist gleichzeitig ein Verfassungsgericht, als auch das letzte Berufungsgericht. Die kontroversesten Entscheidungen kommen aber von seiner dritten Rolle: Fälle von Politikern mit parlamentarischer oder ministerieller Immunität verhandeln. Im November 2015 beispielsweise ordnete Herr Zavascki die Verhaftung eines PT Senators an, weil er einem Lava Jato Mitverschwörer bei der Flucht außer Landes half. Im letzten Mai setzte er den Sprecher des Unterhauses ab, wei dieser seine Position dazu verwendete, die Lava Jato Untersuchungen zu beeinflussen. Beide Entscheidungen, die von Herrn Zavasckis Richterkollegen bestätigt wurden, waren Präzedenzentscheidungen. Die Bürger jubelten.

Die Popularität des Gerichtes stieg genau so an, wie jene der Politiker sank. Von den 594 Kongressabgeordneten befinden sich 35 im Visier der Lava Jato Ermittlungen; Dutzenden weiteren werden andere Verfehlungen vorgeworfen. Enthüllte Aussagen scheinen zu implizieren, das sich auch Herr Temer und mehrere Kabinettsmitglieder schuldig gemacht haben, auch wenn sie alles abstreiten. In Umfragen zur Respektiertheit von Berufen rangieren Richter weit vor Politikern (wenn auch deutlich hinter Feuerwehrmännern, der Nummer eins). Auch Sergio Moro, Richter an einem niederen Gericht, der gegen die Petrobras Täter ermittelt, ist ein Volksheld.

Wenn Brasiliens Verfassungsrichter so viel Bewunderung entgegen gebracht wird, dann muss man sich Sorgen machen. Teori Zawascki war einer der nüchternsten. Typischer für die Zunft ist eher der das Rampenlicht suchende Marco Aurelio Mello, der im Dezember bekannt wurde, als er plötzlich wegen Unterschlagungsvorwürfen den Rücktritt des Senatssprechers erwirkte. Er hat sich dabei nicht mit seinen Richterkollegen abgesprochen und wurde schliesslich von diesen überstimmt. Die Präsidentin des obersten Gerichtshofes Carmen Lucia erstaunte vor kurzem Rechtsgelehrte, als sie eine Bundesanordnung aufhob, mit der ein Konto des Bundesstaates Rio de Janeiro gesperrt werden sollte, weil eine Ratenzahlung nicht eingehalten wurde. Ihre Bemühungen, Bandenmassaker in Gefängnissen zu beenden machten sie berühmt; sie wird manchmal als Kandidatin für das Präsidentenamt gehandelt.

Die immer stärkere politische Rolle der Richter ist nicht allein ihnen selbst zuzuschreiben. Die zunehmende Polarisierung der Politik verstärkt den Druck auf das STF in seiner Ausgleichsfunktion. Brasilianische Richter dürfen auch keine Fälle abweisen, egal wie absurd sie sein mögen. Jeder einzelne hat 7.000 - 10.000 in Bearbeitung; der oberste Gerichtshof der US dagegen hat lediglich ein paar Dutzend pro Jahr. Während der gesamten politischen Krise in Brasilien half die Bereitschaft der Gerichte, Politiker zur Verantwortung zu ziehen dabei, das Vertrauen der Bürger in die Demokratie zu erhalten.

Das wachsende Selbstvertrauen des Gerichts ist aber auch eine Gefahr für die Demoratie, meint Rubens Glezer von der FGV Jurafakultät in Sao Paulo. Richter würden sich zu oft und voreilig in der Öffentlichkeit zu Wort melden. Live Übertragungen aus den STF Sitzungen verstärken deren große Egos nur noch. Kameras machen es schwerer, Fehler einzugestehen. Einige Gerichtsbeobachter haben vorgeschlagen, den öffentlichen Sender TV Justicia aus den Gerichtsräumen zu verbannen. Andere sprechen sich dafür aus, dem STF engere verfassungsrechtliche Aufgaben zu geben wie es sein deutsches Pendant hat, oder dass er zurück in die alte bis 1960 Hauptstadt Rio de Janeiro verlegt wird, um eine gewisse Distanz zu den anderen beiden Gewalten in Brasilia zu schaffen.

Die Ideen für eine Veränderung der Rolle des Gerichts sind durchaus erwägenswert, allerdings nicht jetzt, wo dies als Eingriff in die Lava Jato Affäre gesehen werden könnten. Um solche Vorwürfe zu vermeiden hat Herr Temer klugerweise gesagt, dass die Lava Jato Angelegenheit nicht an den Richter gereicht werden sollte, den er als Nachfolger von Herrn Zavascki einsetzen wird (wie es eigentlich der Fall wäre), sondern dass sie an einen der gegenwärtigen Richter gehen sollte (was unter außergewöhnlichen Umständen zulässig ist). Diese Person widerum wäre gut beraten, wenn sie die nüchterne Beharrlichkeit von Teori Zavascki an den Tag legen würde.




Im Original: Death of a Brazilian justice
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